1954: Neapel und Umgebung ***
1954: Neapel und Umgebung ***
Wenn Günter Wirth tagsüber nicht malte oder für Corda Fratres tätig war, trieb er sich in der Stadt oder in der Umgebung herum.
Abends saß er oft auf der Mauerumrandung der langen Terrasse, die das 5.Dachgeschoß an Stelle eines einfachen Gitters umgab, ließ die Beine über der Staße baumeln und beobachtete das Leben und Treiben auf der Straße unter ihm. Rechts in der Ferne sah er
den Golf von Neapel und die darin ankernde amerikanische Mittelmeerflotte. Neapel war wie Berlin 1954 von den Amerikanern be- setzt. Wie in Zehlendorf in der Clayallee sah man in Neapel Scharen von uniformierte Amerikaner, nur daß sie in Neapel Marineuni-
formen trugen.
Für die Kinder, meistens Jungen, hießen alle Amerikaner wie auch Europärer einfach ´Joe ´ und sie umringten die Fremden ständig und bettelten "He Joe, cinque Lira, sigaretta". Auch Günter Wirth ging es so. An seinen großen Schuhen und seiner grünen Cord-hose die er trug, und die in Neapel völlig unbekannt war, erkannten sie in ihn sofort als Fremden und bettelten ihn an. Manchmal fragten sie ihn "Americano ?" Wenn er dann scherzhafter Weise antwortete "No Americano, sono Ruski" oder "Russo", dann mach-ten sie große runde Kulleraugen. Wenn er sie dann anschrie "Va te ne, va via" waren sie mehr als erschrocken und machten sich davon.
Später hatte er immer eine Stange Vivil in der Hosentasche. Die gab es 1954 in Berlin noch in Stangenform, nicht in Tüten. Es waren
weder Kaugummis noch Bonbons. Es waren kleine quaderförmige Tabletten (etwa 20 Stück ?) und waren süß und schmeckten nach
Pfefferminz. Vor allen waren sie stückweise verteilt, sehr ergiebig. Günter Wirth hatte statt ´Joe´ nun den Namen ´Vivil´ .
Günter " Bürste " Wirth vor der Reise nach Neapel als Notstandsarbeiter, Steinsetzer-Lehrling (an seiner rechten Seite sein Freund
´Zille´). Und 1954 noch immer mit Bürsten-Haarschnitt als ´Chief´ in seinem Stammlokel, dem Jazz-Kellerl KAJÜTE.
Günter Wirth malte in seinem Atelier, wenn immer die Zeit und die Temperatur es gestattete, mit Temperafarben und einem Gummi- roller auf Zeitungspapier, mit Tempera auf Karton, malte auf aus Berlin mitgebrachten vongrundierten artfaserplatten Landschaften.
Da es in Neapel kein Geschäft für Malartikel gab, griff er oft zu Zahnpaster und Senf, oder ließ sich von seinem Händler in Paris das benötigte nach Napel schicken.
Günter "Bürste" Wirth durchstreifte, wenn er nicht malte, die Stadt; besonders das Spaccanapoli. Er hatte ja bereits am Tag seiner Ankunft in Neapel die Familie von Vincenco und Ninetta (siehe Blog 1954: Vincenzo, Ninetta) kennen gelernt. Ninetta wurde seine kleine Freundin. Sie fühlte sich sehr zu Günter hingezogen, aber er konnte sie nicht bei seinen Streifzügen mitnehmen, sie wurde als älteste Tochter zu Hause gebraucht. Außerdem wäre sie ihm auch hinderlich gewesen und ihm klangen immer die mahnenden
Worte in den Ohren "Aber nicht Bum-Bum machen!". Also nahm er seine Erkundigungen allein vor. Zuerst war es Spaccanapoli in
der Nähe seines Hauses in der Via Mezzocannone. Erst 1962 sah er sie wieder. Da war aus seiner ehemaligen 13jährigen kleinen
Freindin eine elegante junge Dame geworden (siehe Blog 1962 Apulien !)
Günter Wirth braucte nun aber auch Lire und begab sich in die `Banca di Sicilia´ zum Umtauschen von Westmark in Lire. In der Bank
war es sehr voll und die Menschen standen dichr gedrängt an den Schaltern. Ats erstes lernte er, wie man in Neapel mit Geld umging
und beobachtete, daß hinten anstehende zusammengelegte Geldbündel über die Köpfe der Wartenden hinweg den am Schalter be-
findlichen zuwarfen.
Beim weiterem Warten sah er an der Wand eine Umrechnungstabelle von Dollar zu Lire. Da standen Germania Orientale und auch Germania Occidentale. Aber war war das denn? Demnach war ja die Ostmark doppelt so viel Wert wie die Westmark ! Günter ging
kopfschüttelnd raus und überlegte. Dann kam ihm die Erleuchtung: Beide Währungen waren ja an der Bank nicht konventierbar. Und
da die Westmark an den Dollar, die Ostmark an den Rubel gebunden war, der Rubel im Welthandel doppelt soviel Wert war als der Dollar und nur zum Warenaustaustauch diente, kam dieser Kurs zustande. Nun begriff er auch, warum in der DDR französische und weiere Artikel soviel weniger kosteten als die selben in Westberlin. Die gleiche Pathe-Schallplatte kostete im HO etwas mehr als 5,00
Ostmark (nach Wechselstubenkurs circa 1,25 Westmark, in Westberlin aber mehr als 15,00 Westmark). Das Gleiche Ergebnis zeigte
sich auch bei französischen Kosmetikartijkeln.. (siehe Blog 1945: Orient & Occident !).
In einem Kleidergeschäft erstand er eine italienische Hose und ein Hemd, das es in Berlin nicht gab. Es war grün und hatte schmale schwarze Streifen. Ein leichter Sommeranzug aus einem dünnen schimmernden Gewebe, das es auch in Deutschland nicht gab und
völlig unbekannt war, ein Zweireiher, hatte es ihm angetan und mußte gekauft werden. Nun waren die Lire fast alle ausgegeben.
Zuletzt ging er noch in ein Briefmarkengeschäft in der Via Garibaldi und kaufte einen gebrauchten italienischen Briefmarkenkatalog und ein kleines und auch gebrauchtes Einsteckbuch und war nun bis auf 100 Lire Peite. Von 100 Lire lebte er in Neapel und Um- Umgebung nun fast 2 und 1/2 Monate lang. Es war nicht leicht, aber es ging. Essen hatte er Donnerstags bei den Corda Fratres in der Universiät (siehe Blog 1954: Corda Fratres !) und als Nassauer bei Vincenzo. Für ein Getränk Orzata für 5 Lire (etwa 3 1/2) Pfennige (ein mit sprudelndem eiskalten Wasser stark verdünnter Sirup (Siroppa D´orzata) aus Mandelmilch, ließ es sich unterwegs in Neapel aushalten. Eigentlich wäre es ja nun Zeit gewesen, nach Berlin zurück zu kehren, aber er tat es nicht. Ihm gefiel es in Nea-
pel zu gut und er hatte ja noch viel vor.
Das Castel Nuoco, auch Maschino Angioino oder Castrum Novum genannt, ist mit seinen Türmen von vielen Teilen der Stadt aus gut zu sehen. Bisher war Palermo die Hauptstadt. Karl der Erste von Anjou verlegte sie nach Neapel und brauchte für seine Hofstatt eine repensative Residenz. Er ließ ab 1279 das Castello bauen. 1347 zerstörte die Armee Ludwig des Ersten die Burg. Als sie da- nach wieder aufgebaut wurde, wurde sie der Königin Johanna der Ersten übergeben. Sie ließ die Festung wieder herrichten. In der
folgenden Zeit wurde sie immer wieder umgestaltet und renoviert und wurde für viele Könige.Festung und Residenz zugleich.
Zwichen die beiden Türme der Burgvorderseite wurde ein Triumpfbogen eingebaut und von Francesco Laurena zu einem tollen Portal der Renaissance geschaffen.
Die Burg hat verschidene Räume mit konzeptionellen Ausstellungen und wird nicht kommerziel genutzt. Allerdings hatte sie 1954 eine Carabiniere-Station. Als Günter Wirth sich im Vorgarten der Burg, der von Frauen mit ihen Kindern stark frequentiert wurde, sich auf einer Bank ausruhte und den spielenden Kindern zuschaute, kam den Weg zum Portal ein Jeep mit vier Polizisten heran ge-braust und ohne auf die Kinder und Frauen Rücksicht zu nehmen. Sie mußten zur Seite springen. Zu Schaden kam zwar niemand, aber so etwas würde in Berlin wohl kaum geschehen.
Spaccanapoli
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Herculaneum
Seit 307 v.Chr. gehörte Herculaneum zum römischen Einflußbereich. Zum Zeitpunkt der Zerstörung am 24. August 79 v.Chr. hatte es etwa 4000 Einwohner und war als Hafenstadt deutlich kleiner als Pompeji. ie freigelegten Häuser deuten auf einen großen Wohlstand der Einwohner hin, die wegen der natürlichen Schönheit und den prächtigen Blick über die Bucht von Neapel und seiner reinen Luft gerne als Sommerfrische vieler reicher Römer gewählt wurde.
Herculanum war als griechische Stadt Herakleion bekannt und war von einer Mauer umfaßt, die ein Gebiet von ca. 20 Hektar einfass-
te und lag an der Küstenstaße, die am Golf entlang von Neapolis nach Pompeji und Stabiae führt. Diese Trasse wurde später Via
Domitiana genannt.
Der Ausbruch des Vesuv kam völlig überraschend. Eine kilometerhohe Explosionssäule spieh Asche und Lapilli aus und tug sie in die
Richtung Pompeji. Ein Pyroplastischer Strom raste mit einer Temperatur von über 400 Grad Celsius und einer Geschwindigkeit von 100 bis 200 km/h dicht und zähflüssig auf die Stadt zu. Sie füllte die Gebäude und sein Inventar mit einer vulkanischen Schicht von bis zu 20 Meter Stärke völlig aus und verfestigte das Material zu einer dichten Masse von Tuffstein, die alles konservierte. Auch die mehrgeschossigen Häuser mit ihren Möbeln blieben in einem guten Erhaltungszustand erhalten.
Die über Jahre hinweg erfolgten Ausgrabungen erfolgten unter Leitung und Aufsicht des neapolitanischen Militärs. Da Günter Wirth jedes Jahr für drei Monate in seinem Atelier in der Via Mezzocannone lebte, konnte er jährlich die Ausgrabungen verfolgen.
War 1954 noch Herculaneum unter Resina mit der Straßenbahn zu erreichen, so brachten ihn nach der Eingemeinung von Ercolano
als Stadteil von Neapel die Circum Vesuviana Triebwagen in wenigen Minuten hin.